Brief in die Corona-Isolation I

Liebe Céline

Du hast gehofft, die Schliessung der Schulen aufgrund der Coronakrise bringe dir Freizeit. Zeit, mit Freund*innen etwas zu unternehmen. Zeit rauszugehen. Zeit zu entspannen. Freie Zeit, Freiheit. 

Ich kann deine Entrüstung, die ich in deinem Schulaufsatz über deinen Alltag während der Krise lese, sehr gut nachvollziehen. Du hast Freizeit erwartet und einen Berg von schulischen Pflichten erhalten, die du alleine bearbeiten musst. Das ist eine riesige Herausforderung. Wenn ich dich richtig verstanden habe, fehlen dir nämlich nicht nur die Schulkamerad*innen, sondern auch die Orientierung und Anleitung durch die Lehrpersonen. Ist es nicht erstaunlich, dass dir plötzlich fehlt, was dir vorhin zu viel war? In der Krisenzeit geht es wohl vielen Menschen so. Ich zum Beispiel vermisse meinen Arbeitsort, Zürich. Die Stadt, die mir gerade zu Stosszeiten auch einmal zu viel werden konnte. 

«Entrüstung ist ein erregter Zustand der Seele, der meist dann eintritt, wenn man erwischt wird.» – Wilhelm Busch

Das Coronavirus bietet dir jetzt die Möglichkeit, deine Tage frei einzuteilen, Schwerpunkte zu setzen und den Terminkalender selber zu führen. Du könntest deine Zeit so einteilen, dass es möglich wird, mitten im Vormittag ein Schaumbad zu nehmen oder einen Kuchen zu backen. Im Home-Schooling-Korsett sind viele Freiheitsgrade für dich drin. Aber auch Herausforderungen wie technische Probleme, neue Arbeitsweisen und -plätze sowie Familienmitglieder, die mit der Zeit nerven. Das wird im Erwerbsleben dann übrigens nicht besser. Ausser dass dann Chef*innen, Arbeitskolleg*innen, Kund*inne oder Patient*innen nerven. Und hin und wieder nervt man sich auch über sich selber – so geht es zumindest mir.  Denn Selbstorganisation und Selbstführung braucht viel Fingerspitzengefühl und Ehrlichkeit. Nicht zuletzt geht es dabei um Kernfragen wie: Wer bin ich? Was will ich? Was kann ich, was muss ich noch lernen? Wo will ich hin? Wozu möchte ich etwas beitragen? Und: Wer kann mich dabei unterstützen? Und glaube mir, die meisten sogenannte erwachsene Menschen können nicht alle dieser Fragen beantworten. Ich übrigens auch nicht. 

Brief I

Du hast während der Corona-Krise auf Freizeit gehofft, nun hast du zumindest gewisse Freiheiten bekommen –  und du wünscht dir die Struktur der Schule zurück. Das ist ja eigentlich ungeheuerlich. Aber in der Freiheit liegen auch Verantwortung und Verpflichtung, was Menschen schnell überfordern kann. Gerade weil noch viele dieser Kernfragen offen sind. Wenn wir unsere Prioritäten nicht kennen, ist es schwierig Entscheidungen zu treffen. Und Eigenverantwortung zu tragen, heisst nun einmal Entscheidungen zu fällen. Und wenn die Entscheidung nur heisst: Mathe oder Englisch, Ausschlafen oder Arbeiten. Du beschreibst diese Herausforderung entwaffnend ehrlich, was mich total beeindruckt. 

Langeweile und Sehnsucht in der Corona-Krise

Sich selber die Überforderung einzugestehen und sie auch noch in einem Aufsatz zu thematisieren, erfordert Stärke. Hut ab! Ich bin sicher, dass du einen Weg gefunden hast. Gerade weil du zum Zeitpunkt als du deinen Aufsatz geschrieben hast von Serien schon gelangweilt warst und schlechte Laune hattest, weil du deine Freund*innen vermisst hast. Langeweile und Sehnsucht machen bekanntermassen kreativ. Triff deine Entscheidungen und verfolge seine Ziele.  Es würde mich sehr interessieren, was dabei herauskommt. Verrätst du's mir? Ich verrate dir dann dafür nächste Woche, warum ich glaube, dass du eine gute Freundin bist. 

Herzliche Grüsse

Dein Pink Flamingo

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